Nichts ist heilig - Ein Nachruf

 

Hätte er noch gelebt, so hätten die Schüsse der Terroristen auch ihn treffen können, François Cavanna, Gründer der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“. Am 29. Januar jährt sich der Todestag des 2014 verstorbenen Schriftstellers. Schon Anfang der 1960er Jahre verteidigte Cavanna den Grundsatz der Freiheit der Satire, die sich über alles hinwegsetzen darf: "Nichts ist heilig - Lache über alles, (...), um die alten Monster zu vertreiben."

 

François Cavanna wurde 1923 als Sohn eines italienischen Bauarbeiters und eines französischen Dienstmädchens geboren. Er wuchs in einem Vorort von Paris im isolierten Milieu armer italienischer Einwandererfamilien auf. "Wir lebten außerhalb von allem. Die Italiener haben nur unter sich gelebt, die hatten alle dieselbe Arbeit auf den Baustellen", so Cavanna in einem Interview mit dem Autor für die Dauerausstellung des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin. "Also bin ich auf der Straße aufgewachsen".

 

Kindheit und Jugend verarbeitete er in dem 1978 erschienenen Band "Les Ritales", dem ersten von sieben Büchern mit autobiografischen Bezügen. Nach dem Abschluss der Volksschule arbeitete Cavanna als Obstverkäufer und Briefsortierer in Paris. Anschließend begann er eine Lehre als Maurer. Sein weiterer Lebensweg schien damit vorgezeichnet.

 

Maria

 

Doch mit dem Einmarsch der Wehrmacht wurde alles anders. 1943 kam der damals 20-Jährige gegen seinen Willen nach Berlin-Treptow, wo er für das Elektrounternehmen Graetz AG Granathülsen pressen musste. Er verliebte sich in die ukrainische Zwangsarbeiterin Maria, die ihn bei der Maschinenarbeit anleitete. Wirklich zusammen kamen beide aber erst nach Kriegsende. Und schmiedeten große Pläne. Doch das Paar wurde jäh getrennt, als Maria von Soldaten der Roten Armee verschleppt wurde. Die näheren Hintergründe sind bis heute unklar. "Für mich hat der Krieg mit einer Katastrophe geendet", so François Cavanna. Zeit seines Lebens versuchte er, Maria zu finden. Auch nach dem Fall der Mauer unternahm er noch einen Versuch.

 

Seine Liebe zu ihr steht im Mittelpunkt von "Les Russkoffs", seiner zweiten autobiografischen Erzählung. Eine Romanze im Zeichen der Zwangsarbeit, veröffentlicht in den politisierten 1970er Jahren? Cavanna schrieb auch hier ohne allzuviel Rücksicht auf Erwartungen und Konventionen. Unter dem Titel "Das Lied der Baba" erschien der Band in deutscher Sprache in der Bundesrepublik (1981) und sieben Jahre später in der DDR.

Auch heute bietet das Buch einen ungewöhnlichen Einblick in den "Alltag" der Zwangsarbeit in Berlin. Aus Sicht der historischen Forschung gilt der Band als einer der aufschlussreichsten  Beschreibungen der NS-Zwangsarbeit in Berlin aus der Perspektive eines Zeitzeugen.

 

... die Klappe halten...

 

Über seine Erfahrungen als NS-Zwangsarbeiter machte Cavanna zeitlebens dennoch wenig Aufheben. Lange verschwieg er, dass er sich den Zeigefinger der linken Hand mit einer Pressmaschine verstümmelte, weil er nicht mehr arbeiten wollte. Der Grund für seine Zurückhaltung läge, so schrieb Cavanna in einem Vorwort zum Katalog der Dauerausstellung des Dokumentationszentrum, in der "brutalen Einsicht" in die "wahrhaftige Existenz von Todeslagern", in die "organisierte Massenvernichtung". Angesichts dieses Verbrechens habe er beschlossen, "die Klappe zu halten", wenn es um das eigene Leid gegangen sei.

 

Drei Jahre nach der Rückkehr nach Paris heiratete er Liliane, die mehrere NS-Lager überlebt hatte. Liliane litt unter den Spätfolgen von Sterilisationsversuchen der Nazis. „Ich habe alles gemacht, um sie zu heilen, um Ihr ein bisschen Lebensfreude zu bringen. Und als es anfing, besser zu werden, ist sie gestorben“. Für Cavanna brach erneut eine Welt zusammen.

 

Was ihm weiterhalf, war die Arbeit für die Zeitung eines Verbandes ehemaliger NS-Zwangsarbeiter, für die er politische Karikaturen erstellte. Daraufhin beschloss er, als Zeichner und Journalist zu arbeiten. Unter dem Pseudonym „Sépia“ zeichnete Cavanna sechs Jahre für das Magazin „Zéro“, bevor er 1960 die monatlich erscheinende Satire-Zeitschrift „Hara-Kiri“ gründete.

 

 

Dumm und böse: „Hara-Kiri“

 

In Form und Inhalt war „Hara-Kiri“ etwas Neues: Die Satire sollte zuspitzen, und respektlos gegen jedermann sein. Die Karikaturen sollten spontan und direkt gezeichnet werden, so Cavanna. Und es gab Titelbilder mit thematisch inszenierten Nacktfotos. Zu den Vorbildern zählte die amerikanische Satire-Zeitschrift „MAD“, später auch die pornografischeren Underground-Comics. „Journal bête et méchant“ lautete zeitweise der Untertitel, „dumm und boshaft“, aber auch das war eine Ironisierung des Vorwurfs, geschmacklos zu sein.

 

Für „Hara-Kiri“ zeichneten auch schon Georges Wolinski und Jean Cabut, die am 7. Januar 2015 in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo ebenfalls ermordet wurden. Mit dieser Zeitschrift habe Cavanna Anfang der 1960er Jahre in der französischen Presse und unter Humoristen eine kleine Revolution angestoßen, so der 1967 geborene Chefredakteur Stéphane Charbonnier, auch ein Opfer des Terrors. 

Die konservative Zeitung „Le Monde“ sah Cavanna  als einen Wegbereiter der Studentenbewegung von 1968. Nach dem Pariser Mai erschien „L´hebdo Hara-Kiri“ als Wochenausgabe mit einer deutlich politischeren Ausrichtung. Die Titelbilder waren jetzt durch politische Karikaturen bestimmt. Ende 1970 wurde „L´hebdo Hara-Kiri“ vom französischen Innenministerium verboten, weil sie einen respektlosen Witz zum Tod von des franzöischen Präsidenten Charles de Gaulle gemacht hatte.

Charlie Hebdo

Im selben Monat gründete Cavanna „Charlie Hebdo“ – eine Geburt aus der Zensur und mit einem prominenten Namenspatron. François Cavanna leitete die Zeitschrift bis Ende 1981 und richtete sie viel stärker an politischen Grundsätzen aus. „Charlie Hebdo“ sollte Laizismus und Demokratie, den Idealen der Aufklärung, den Menschenrechten und dem Kampf gegen Rassismus verpflichtet sein. Früher als andere griff „Charlie Hebdo“ Themen wie Ökologie auf und organisierte schon Anfang der 1970er Jahre Anti-Atomkraft-Proteste. In diesem Zeitraum erzielte die Zeitschrift mit 150.000 Exemplaren die höchste Auflage. Anfang der 1980er Jahre wurde sie jedoch mangels Masse eingestellt. Einen Grund für den Niedergang sah die Redaktion im Wahlsieg des Sozialisten François Mitterrand, mit dem in der Linken viel Hoffnung verbunden war. Ein auf Opposition gebürstetes Blatt wie „Charlie Hebdo“ passte da nicht mehr in die politische Landschaft.

 

François Cavanna blieb ein politischer Mensch. Er ging auf die Straße, um gegen den rechtsextremen Front National zu demonstrieren. Eine Annäherung an die Kommunistische Partei lehnte er ab.

1992 erfolgte der Relaunch von „Charlie Hebdo“, an dem sich Cavanna beteiligte. Aber nicht mehr als Herausgeber. Der damals knapp 70-Jährige spielte nur eine Nebenrolle, nahm aber noch an den Redaktionskonferenzen teil. Cavanna hatte eine eigene Kolumne, inhaltlich gekennzeichnet durch Selbstironie und häufig mit Umweltthemen.

Neben der Arbeit als Schriftsteller war er auch als Übersetzer tätig, darunter von „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch. Solange es ihm gesundheitlich möglich war, schrieb Cavanna in einem kleinen Büro im Quartier Latin unweit von Notre Dame. 2011 erschien sein letzter Band, „Lune de miel“ (Honigmond), in dem er sich mit seiner Parkinson-Erkrankung auseinandersetzte.

 

„Mein Leben besteht mehr aus Scheitern als Erfolgen. Aber die Erfolge sind stark, sie sind schön“, sagte Cavanna im Interview mit dem Verfasser. „Ich bin stolz darauf, Hara-Kiri und Charlie Hebdo erfunden zu haben. Ich bin stolz darauf, dafür gekämpft zu haben“.

François Cavanna starb am 29. Januar 2014 im Alter von 90 Jahren in einem Vorort von Paris. „Aber Cavanna ist nicht ganz tot“, so Stéphane Charbonnier damals. „Charlie Hebdo wird ihn überleben“.

 

© Thomas Irmer 

Auszüge aus einem Interview mit François Cavanna sind auch in der Dauerausstellung "Alltag Zwangsarbeit 1938-1945" des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit abrufbar.